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Hörfunkpredigt im Radiogottesdienst aus Sasel am Karfreitag 2003 (18.4.2003), von Pastorin Susanne Bostelmann

NDR-Ü-Wagen überträgt Saseler Gottesdienst

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war und der da ist und der da kommt.

Liebe Gemeinde,
der Tod macht entsetzlich einsam.
Wer den Tod eines geliebten Menschen miterlebt hat, weiß, was er bedeutet: Eine Welt geht in dem Moment unter. Der Dialog bricht ab. Das Miteinander ist vorbei – endgültig. Was bleibt, ist die Erfahrung von Durcheinander und Hilflosigkeit, von Abschied und Trennung, von Trauer und Wut – wie eine dunkle Wolke, in der die restliche Welt versinkt.

Den Frauen und Männern, die den letzten Tag von Jesus miterlebt haben, ging es nicht anders. Manche verfolgten das Geschehen aus sicherer Entfernung, weil die Angst sie überwältigt hatte. Einige standen, erschüttert und starr, am Kreuz.
Was sie sich von Jesus erhofft hatten, was sie in der Gemeinschaft mit ihm erlebt hatten, hing nun mit ihm am Kreuz. Mit seinem Tod ging die Welt unter, die sie mit ihm geteilt hatten.

Unter ihnen war Maria. Ihr Sohn hing am Kreuz. Für sie würde nichts mehr sein wie bisher. Nur noch Dunkel und Einsamkeit waren da, und diese Worte, fremd darin. Sie drangen gar nicht zu ihr durch:
Johannes, dies ist deine Mutter. Maria, dies ist dein Sohn.

Aber als Jesus sie ansprach, musste sie die Augen heben - und sie sah neben sich Johannes stehen, auch wenn sie ihn kaum wahrnahm. Sie war wie betäubt.

Der Tod macht entsetzlich einsam. Damals wie heute.
Gabriele Richter hat ihre 14-jährige Tochter durch einen Unfall verloren. Sie beschreibt ihre Gefühle folgendermaßen (aus: Anja Wiese, Um Kinder trauern):
„Mit der Nachricht von ihrem Tod ist von einer Sekunde zur anderen die Sonne in meinem Leben untergegangen – vor mir liegt nur Dunkelheit. Alle Wünsche, Perspektiven, Ziele und Erwartungen sind mit einem Schlag ausgelöscht. Alles, was bisher Bestand hat, alle Werte, aller Glaube, fallen in sich zusammen. Mein Selbst- und Weltbild, mein Gottesbild liegt in Trümmern. Mein vermeintlich so sicheres, standfestes Lebensgebäude ist in sich zusammengefallen.“

Sie spürt eine Sehnsucht nach der verstorbenen Tochter, die sie beherrscht. Sie erzählt, dass der Schmerz ihr die Luft zum Atmen nimmt, dass die Trauer sie lähmt.
Sie dreht sich in einem Gedanken- und Gefühlschaos; und es dreht sich eigentlich alles um die verstorbene Tochter und um das, was sie in ihrem eigenen Leben verloren hat. Für mehr ist kaum Platz.
Und dennoch, voller Unsicherheit, und Zweifel, voller Zukunftsängste, macht sie sich auf die Suche ...
Langsam findet sie Mut, die Augen zu erheben und umherzuschauen, ob sich etwas finden lässt, was den Schmerz erträglich macht.

Johannes, dies ist deine Mutter. Maria, dies ist dein Sohn. Maria ging mit Johannes mit, mit diesem jungen Mann, den sie eigentlich kaum kannte. Sie vertraute darauf, das Jesus das richtige für sie getan hatte. Und die beiden entdeckten, dass sie einander brauchten. Sie begannen einander zu erzählen von Jesus, wie sie ihn kannten. Was Johannes mit Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern erlebt hatte, wusste sie längst nicht alles. Und wie sie ihn als Mutter sah, war ihm neu.

Wenn Maria Johannes von Jesus erzählte, war sie glücklich. Ihm konnte sie ihre Erinnerungen erzählen, er hörte gern ihren Geschichten von ihrem Sohn zu. Manchmal weinte und lachte sie gleichzeitig. Und sie staunte auch, wenn sie von Johannes hörte, was er für ihn gewesen war. Seine Erzählungen saugte sie begierig auf. Es machte sie stolz, solch einen Sohn gehabt zu haben. Dann wieder überwältigte sie der Schmerz ihn verloren zu haben.
Aber in dem Schmerz drang zu ihr durch, dass auch Johannes trauerte. Sie konnten miteinander weinen; er um den Freund und Lehrer, sie um den Sohn. Maria spürte, dass sie mit ihrer Trauer nicht allein war.
Und sie verstand langsam den Sinn von Jesu Worten: Er hatte sie vor seinem Tod miteinander verbunden. Er hatte mit seinen Worten eine Brücke gebaut. Es gab für sie einen Weg heraus aus der Einsamkeit des Todes.

Gabriele Richter hat eine solche Brücke gefunden im Verein „Verwaiste Eltern“. In Selbsthilfegruppe und Trauerseminaren, im Gespräch und Austausch mit Eltern, die auch ein Kind verloren haben, erlebt sie ein gemeinsames Grundverständnis. Auch andere müssen dieses Gefühlschaos durchleben. Die Gemeinsamkeiten mit anderen trauernden Eltern geben ihr in all der Erschütterung etwas Sicherheit. Sie erlebt aber auch, dass einige Eltern anders trauern, ihre Erlebnisse anders werten und wahrnehmen – das bringt sie dazu, ihre eigenen Erfahrungen neu zu überdenken und zu ordnen.
Das alles hebt die Trauer nicht auf. Aber es unterstützt und trägt sie in ihrer Trauer. Sie erzählt: „Das Leid der anderen Familien lässt mich mein Schicksal aushalten, ihre Wege, mit dem Tod ihres Kindes zu leben, machen mir Mut, geben mir Kraft und Zuversicht für meinen Trauerweg. Ich habe ein wenig „neuen Boden“ gefunden, der mich „hält und trägt“.“

Johannes, dies ist deine Mutter. Maria, dies ist dein Sohn.
Immer wieder kamen Maria und Johannes auf das Warum. Warum hatte er sie verlassen? Warum musste Jesus sterben, warum hat er es zugelassen, dass sie ihn töteten?
Aber was hätte er auch anderes tun können. Er war nicht wie einst König David, der bewaffnete Männer gesammelt und Jerusalem in blutiger Schlacht erobert hatte. Gottes Reich konnte durch Gewalt nicht errichtet werden. Es leuchtete dort auf, wo Menschen einander in Liebe begegneten. Gottes Reich war dort, wo es Solidarität gab, gerade mit den Hilflosen. Und sogar mit den Feinden. Denn Gewalt, hatte Jesus immer wieder gesagt, erzeugt nur weitere Gewalt. Wer zum Schwert greift, kommt durch das Schwert um. Und: Den Friedfertigen gehört das Himmelreich, hatte er gesagt.
Das konnten die Mächtigen nicht ertragen. Die Macht Roms war durch das Schwert gestützt. Die Machthaber wollten die Unterwerfung, durch Angst und Einschüchterung hielten sie die Menschen gefügig. Ein Mittel war die öffentliche Hinrichtung am Kreuz.
Wer unter euch der Größte sein will, diene den anderen, hielt Jesus dagegen. Die Macht der Liebe und der Solidarität beschämte die Mechanismen der Gewalt.
Darum wurde er verhaftet, und darum wollten die geistlichen Machthaber bei seinem Prozess, dass er widerriefe. Sie wollten, dass er Gott ihren Zielen unterordnete. Aber das konnte er nicht tun, er, der die Liebe Gottes auf Erden verkörperte. Es wäre Verrat gewesen an allen, die an ihn geglaubt hatten, Verrat an der Macht der Liebe, Verrat an Gott.
Jesus hat sich nicht einschüchtern lassen. Seinem Körper konnten sie Gewalt antun, ihm sein Leben nehmen. Sein Tod war qualvoll und schien die Niederlage seines Lebens zu sein. Aber sein Tod war nicht vergeblich. Es ist vollbracht, waren seine letzten Worte. Jesus ist bewusst in den Tod gegangen. Er hat seinen Gegnern sein Leben gegeben. Er hat den Schmerz und die Angst im Sterben erlebt, und er hat die Verlassenheit und das Ausgeliefertsein im Tod ausgehalten.
Er war das Ende seines Lebens, aber nicht das Ende seiner Botschaft. Wofür er gestorben war, lebte weiter. Gottes Liebe können Menschen nicht töten.
Die hatten Maria und Johannes am eigenen Leib erfahren. Unter dem Kreuz, dem Zeichen von Gewalt und Ohnmacht, haben sie den Anfang eines neues Leben geschenkt bekommen. Jesus hat sie einander zugewiesen, und im Miteinander war auch er lebendig. So entsteht mitten im Tod Gemeinschaft über den Tod hinaus: untereinander und mit Gott.

Liebe Gemeinde,
heute, am Karfreitag, stehen wir unter dem Kreuz von Jesus. Wenn ich wie Maria und Johannes hinschaue und diesem fürchterlichen Tod ins Auge blicke, lässt er mich nicht unberührt. Ich kenne die Einsamkeit, die der Tod eines geliebten Menschen verursacht. Wenn ich Jesu Worte an Maria und Johannes heute höre, kann ich mich von ihnen aus dieser Einsamkeit rufen lassen. Ich höre daraus, wie Jesus mich meinen Nächsten zuweist: diese sind dein Sohn, deine Mutter, deine Schwester, dein Bruder. Ich höre ihn sagen: sieh auf, denn du bist nicht allein mit deiner Trauer. Und ich weiß, dass es mir gut tut, mich mit Menschen auszutauschen, die ähnliches erlebt haben wie ich. Die Worte von Jesus können mir helfen, eine Brücke zu schlagen zurück ins Leben.

Karfreitag stehen wir unter dem Kreuz. Wenn ich mich einlasse auf die Geschichte von Maria und Johannes, dann sehe ich darin nicht nur meine eigene Geschichte der Trauer.
Hinter Maria sehe ich die Gesichter der verwaisten Eltern: Solche, die ihr Kind durch einen tragischen Unfall oder eine Krankheit verloren. Ich denke auch an die, deren Kinder auf furchtbare Weise umgebracht wurden.
Maria steht für mich aber am Kreuz auch stellvertretend für die unzähligen Mütter (und Väter), die durch Krieg verwaist sind: deren Söhne nicht zurückkehren, deren Kinder von Bomben getötet wurden oder durch die Folgen des Krieges im Land sterben.
Jesus starb einen qualvollen und gewaltsamen Tod, so wie unzählige Menschen in allen Zeiten. Er gibt denen ein Gesicht, von denen wir nur anonym und in Tausender-Zahlen hören. Und er verbindet uns mit ihnen: Diese Menschen sind dein Bruder, deine Schwester, dein Sohn.

Noch im Sterben schafft Jesus Gemeinschaft, Gemeinschaft über den Tod hinaus. In der Abendmahlsfeier hat er diese Gemeinschaft eingesetzt. Dieses tut zu meinem Gedächtnis, hatte er ihnen gesagt, und im Teilen von Brot und Wein wurden sie zu Brüdern und Schwestern im Namen Gottes. Wenn wir heute Abendmahl feiern, werden auch wir eingeladen, uns in diese Gemeinschaft zu stellen. Wenn wir das Brot teilen, sind wir verbunden: mit den Trauernden und denen, die trösten können, mit den Verzweifelten und den Hoffnungsvollen, mit den Einsamen und den Liebenden, mit den Lebenden und den Sterbenden. Durch Jesus werden wir einander zu Nächsten: zu einer Gemeinschaft in Solidarität und liebevoller Achtung.
Das Abendmahl ist auch ein Zeichen dafür, dass sich Jesus mit uns verbindet über den Tod hinaus. Die Einsamkeit des Todes hat er durchbrochen. Das tröstet mich, wenn ich an meinen eigenen Tod denke. Das kann mir auch helfen in der Trauer um geliebte Menschen und das ist meine Hoffnung angesichts der scheinbar unbesiegbaren Gewalt.
Liebe Gemeinde, Maria und Johannes fanden neues Leben unter dem Kreuz. Und sie verstanden nun, dass Jesus von sich als dem Korn sprach, dass in die Erde fällt und sterben muss, damit neues Leben wachsen kann.
Sein Tod bringt neues Leben hervor. Darum lassen Sie uns singen von dem Korn, das in die Erde versinkt und von der Liebe, die daraus hervorwächst. Es ist das Lied Nr. 98 im Gesangbuch.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen


 
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