Zur Übersicht

Voriger Text - Nr. 35 - Nächster Text


 
 

Von Angesicht zu Angesicht; Predigt zur Eröffnung der Ausstellung "Bruder Mensch" am 20.2.2005, von Pastor Matthias Marks; Text: 1. Korinther 13, 12

"Bruder Mensch"; Plastik von Hanno Edelmann, 2004

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ (1. Kor 13, 12)


Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater
und unserm Herrn und Bruder Jesus Christus. Amen.

Wie ein Farbentanz, liebe Gemeinde. So rege flutet das Morgenlicht durch die Fenster. So vielfältig durchdringt es das gebrochene Glas und lässt es in seinen Farben leuchten: Blau, Gelb, Violett, Orange, Rot und Grün und andere Farben in verschiedenen Tönen. Besonders, wenn die Sonne scheint, wird die Kraft des Lichts durch die Fenster in unserem Kirchraum sichtbar und spürbar. Freundlich umfangen von dem farbigen Reigen feiern wir hier Gottesdienst. Und ob es uns immer bewusst ist oder nicht, ob wir die Figuren und Geschichten in den Fenstern schon erkannt haben oder nicht, wirken sie doch höchstaktiv in unseren Gottesdiensten mit. Allein schon durch dies Farbenspiel sind sie immer mit dabei. Sobald die Gemeinde hier Platz nimmt, beginnen sie zu reden. Und das seit nunmehr 40 Jahren.

Der Geburtstag der Lukaskirche ist auch der Geburtstag der Fenster, die der Maler und Bildhauer Hanno Edelmann damals entworfen hat. Mit der Ausstellung seiner Menschenbilder ist nun die Möglichkeit gegeben, die Fenster im größeren Zusammenhang einiger anderer Werke dieses Künstlers zu betrachten. Und es könnte wohl sein, dass wir sie dadurch noch einmal anders oder wieder neu in den Blick bekommen. Denn das ist ja der Reiz eines Kunstwerks, das nicht nur den Künstler, sondern ebenso den Betrachter in die Auseinandersetzung hineinzieht, so dass er oder sie langsam Augen bekommt und dann auf einmal entdeckt oder wieder-entdeckt, was eigentlich schon immer da war. Wenn das geschieht – zu garantieren ist es nicht, aber die Werke von Edelmann kommen uns darin entgegen –, dann sehen wir nicht nur das eine oder andere Kunstwerk, sondern manchmal auch das Leben: uns selbst und den anderen, Gott und die Welt mit neuen Augen.
Es ist dann wie eine `Sehschule´, wo man zusammen mit dem Künstler in der ersten Reihe sitzt. Eine `Sehschule´, die ähnlich sicher auch der Apostel Paulus durchlaufen hat, als er sein Hoheslied der Liebe schrieb. Darin den Vers, der unsere Sache gut trifft.

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen,
gleichwie ich erkannt bin.“ (1. Kor 13, 12)

Ich weiß nicht, liebe Gemeinde, wie Sie das sehen. Ich gestehe, dass mir der Inhalt der Fensterbilder anfangs zu schwer war. Ihre Farben habe ich immer gern genossen. Aber ich habe mich auch gestört gefühlt. Geärgert über das Stückwerk, die vielen Unterbrechungen, die mein Bedürfnis nach klaren Strukturen und raschem Erkennen immer wieder enttäuschten. Irgendwann bin ich auf die Broschüre gestoßen, in der die Fenster erklärt werden. Mit ihrer Hilfe konnte ich dann einige Figuren erkennen und so die Geschichten aus dem Lukasevangelium wiederfinden, die den Bildern zugrundegelegt sind:

Zum Beispiel im mittleren Fenster der Kanzelseite die Geschichte von Elisabeth und Maria, beide schwanger, die eine mit Johannes, die andere mit Jesus. Auffällig, dass in der Darstellung des Künstlers beide Kinder im Leib ihrer Mütter `kreuzförmig´ erscheinen. Oder hier vorn im Altarbereich die Weihnachtsgeschichte, links die Geburt Jesu in einer Krippe, rechts die Hirten auf dem Feld und himmlische Heerscharen, die Gott loben, wie wir es eben auch getan haben, mit den Worten: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Oder die brisante Geschichte auf der Taufseite ganz hinten, in der die knieende Frau das befreiende, in seiner Gültigkeit und Wirkung aber bis heute auch umstrittene Wort, hier aus Jesu Mund vernimmt: „Deine Sünden sind dir vergeben“, was nach Darstellung des Künstlers mehr bedeutet, glücklicher macht und weiter bringt als aller Reichtum dieser Welt.

Die ganze Reihe ist in fünf Farbzonen eingeteilt, was die Botschaft der Fenster unterstützen soll. Doch was ist ihre Botschaft? Damals? Heute? Für Sie und mich? Für uns als Gemeinde?

Die Frage spitzt sich zu, ja es erreicht uns fast wie eine Provokation, wenn wir hören, wie der Künstler selbst darauf antworten möchte: „Kirchenfenster“, sagt er, „sind wie eine Predigt. Wenn die Kirche offen ist und es ist kein Pfarrer da, müssen sie das leisten, was sonst er leisten müsste.“ – Könnten Sie das auch so sagen? Können diese Fenster predigen? Die frohe Botschaft verkündigen? Den Zuspruch des Evangeliums, das Wort von der Kanzel vertreten, gar ersetzen?

Jenseits aller Einwände, die aus evangelischer oder protestantischer Sicht meines Erachtens mit Recht auf das Wort bauen und dem Bild mit Vorbehalten begegnen, muss ich gestehen, dass ich die Botschaft der Fenster von Hanno Edelmann erst verstanden habe, als ich versucht habe, die Sprache seiner Malerei und Bildhauerei – so weit dies möglich ist – als ganze zu verstehen. Erst als ich seine Menschenbilder gesehen habe, konnte ich langsam auch die Predigt seiner Fenster verstehen. Was den Künstler nicht allzusehr wundert. Wie sagt Edelmann doch selbst: „Wichtig war mir auch bei den Lukasfenstern immer, dass ich den Menschen gestalte.“

(Kurze Musik – Einblenden des Dias „Bruder Mensch“)

„Dass ich den Menschen gestalte“ – hier, liebe Gemeinde, möchte ich noch einen Augenblick verweilen und am Beispiel dieser Figur versuchen, dem, was der Künstler damit meinen könnte, mit Ihnen gemeinsam auf die Spur zu kommen. Es ist die Figur, die unserer Ausstellung den Namen gegeben hat. Auf dem Bild noch in Gips, aber hier vorn nun auch – gerade erst aus der Gießerei gekommen – als Bronze: „Bruder Mensch“.

Ich sehe Adam. Den Menschen in zwei Gestalten. Die beide schweigen. Und Wesentliches sagen.
Ich sehe Adam. Den Menschen in der Umarmung. Ganz bei dem anderen. Und so ganz bei sich selbst.
Ich sehe Adam. Den Menschen mit großen Händen. Seinen Nächsten annehmen wie sich selbst. Und darin Gutes tun.
Ich sehe Adam. Den Menschen in seiner Unterschiedenheit. Getrennt. Darin einig mit dem anderen. Und so mit sich selbst versöhnt.
Ich sehe Adam. Den Menschen in der Zufriedenheit. Mit dem Anderen seiner selbst in sich ruhend. Und über dieses Selbst hinaus auf einen Dritten blickend, der vor dem Bild im Werden ist.
Ich sehe Adam. Den Menschen in der Erfüllung seines Ur-Auftrags. Vieräugig im Sinn seines Lebens, am Ziel seines Werkes ankommen.

Ehrlich gesagt, liebe Gemeinde, ist mir die Figur in Gips viel lieber als in Bronze. In Bronze wirkt sie hart und schwer, unverwüstlich und stabil, wie für die Ewigkeit gemacht. Das Original in Gips ist zerbrechlich. Zu zerbrechlich für eine öffentliche Ausstellung. Und doch entspricht es der Aussage von „Bruder Mensch“, die aus beiden Gesichtern bei näherem Hinsehen auch abzulesen ist: Die Wahrheit, um die es hier geht, also das, was den Mensch zum Menschen macht, ist nicht so stabil, sondern schwach, zerbrechlich, vergänglich.

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht ...“

(Die Originalfigur aus Gips wird hervorgeholt
und für alle sichtbar auf den schmalen Rand der Kanzel gestellt)

Ununterbrochen aus dem Gefühl und der Gewissheit heraus leben zu können, von Gott mit liebevollen Augen so angesehen zu werden, wie wir wirklich sind, und in seinen Augen lesen zu können: „Das bist du. Ganz so bist du. Und wie du bist, so ist es gut“ – ununterbrochen aus solchem Gefühl und solcher Gewissheit heraus leben zu können, das wäre wie der Himmel auf Erden, von Angesicht zu Angesicht.

Gewiss wäre es dann leichter, auch dem eigenen Blick standzuhalten, zu Zeiten, wenn er durchdringend, zweiflerisch die eigene Person, das eigene Tun unter die Lupe nimmt und sich nicht losreißen kann von dem, was nicht stimmt, was nicht gut ist. Sich im Spiegel selbst die Zunge herauszustrecken, ist ja eine weit verbreitete Angewohnheit und nicht selten Ausdruck dafür, dass wir uns selbst oft so schwer und manchmal gar nicht aushalten können und zwischen Selbstbetrug, tiefen Selbstzweifeln und jener Sehnsucht nach dem erlösenden Blick hin- und herschwanken.

Gewiss wäre es mit solcher Selbstansicht wie „Bruder Mensch“ auch leichter, uns einander mit Blicken wirklich zu begegnen. Einander anzuschauen. Nicht nur mit dem flüchtigen Blick, der sich ängstlich orientieren muss, oder vorgibt, ihm sei ohnehin schon alles bekannt, und darum gar nicht erfasst hat, was er sieht. Sondern im Gegenteil: Einander anzuschauen mit jener Freude am Sehen und Entdecken, die auch nach Jahren gemeinsamen Lebens noch gerne schaut, sich überraschen lässt und staunt, und das Gegenüber immer mehr so sehen möchte, wie es wirklich ist.

So ununterbrochen erkannt zu werden und zu erkennen, wie „Bruder Mensch“ es zeigt, das wäre in der Liebe sein. Die Gesichter der Figur erzählen mir aber auch – und das macht sie mir glaubwürdig: wir sind es nur bisweilen, in jenen Glücksmomenten, wenn sich für uns der Himmel auftut. In der meisten Zeit ist unser Blick auf uns selbst und den anderen getrübt und verzerrt, wie durch eine matte Scheibe. Und was wir von uns selbst und dem anderen sehen, ist so bruchstückhaft, wie es die Lukasfenster uns lehren, deren Figuren und Geschichten der flüchtige Alltagsblick nur mit Mühe als ganze zu erkennen vermag.

Ist „Bruder Mensch“ also ein idealisiertes Trugbild? Ein frommer Wunsch? Nur ein ethisch-moralisches Lehrstück? – Nein. Ich glaube, dieses Kunstwerk trägt mehr. Und wenn wir die Lebenserfahrungen, die darin zum Ausdruck kommen, nicht gering achten können, dann schlicht und einfach, weil wir von ihnen leben.
Am Beispiel „Bruder Mensch“ verstehe ich die Sprache des heute 82-jährigen Künstlers, der sein Lebenswerk zusammenfasst in den Worten: „Ich habe immer versucht, den Menschen wieder ganz zu machen.“ Dabei hat er Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg und der Gefangenschaft in Sibirien ebenso vor Augen, wie Bilder heutiger, oft verborgener, aber nicht weniger kaputt machender Kriege und Gefangenschaften in Beziehungen und Familien, in Schulen und am Arbeitsplatz, in Politik und Gesellschaft, zwischen den Generationen und Völkern, den Kulturen und Religionen.

„Bruder Mensch“ – der Wunsch, den Menschen wieder ganz zu machen, hat Spuren hinterlassen. Auch Schleif- und Kratzspuren. Die Oberfläche ist uneben und rauh, zeigt Brüche und Risse, die wie Falten und Narben erscheinen. Die Hände wirken grob und fast bedrohlich. Nicht selbstverständlich ist, dass sie umarmen. Sie könnten, wenn sie nicht aufpassen, unbewusst auch erdrücken. Nicht selbstverständlich ist, was sie vollbracht haben. Sie könnten, wenn sie sich darüber nicht bewusst sind, auch zerstören, was sie eigentlich heil machen wollten.

Was bewahrt sie davor? Was lässt sie in allem Formen und Kneten, Hauen und Stechen, Kratzen und Schleifen am Ende das Gute tun, und zum Beispiel dieses Bild vom Menschen hervorbringen, das uns als Christinnen und Christen ahnen lässt, wie Gott auch uns gemeint haben könnte, als er uns zu seinem Bilde hin schuf: einzigartig und gerade darum so unterschiedlich, aufeinander angewiesen und gerade darum so verletzlich?

Liebe Gemeinde, wenn es stimmt, dass ein Kunstwerk aus sich selbst heraus spricht, wie Edelmann sagt, dann höre ich aus dem Schweigen der Figur heraus diese Stimme. Sie lässt mich auch die Lukasfenster mit neuen Augen sehen. Es sind Gleichnisse, ja Ebenbilder, die mir zeigen, was im Lichte Gottes für uns selber gilt: Ist es nicht gerade das Stückwerk, das dem Licht eine so vielfältige Angriffsfläche bietet? Und ist es nicht gerade das gebrochene Glas, das die verschiedenen Farben im Lichte unserer Augen so intensiv leuchten und zu einem lebendigen Bild zusammenkommen lassen? Um dies auf uns zu übertragen: „Wenn wir in allem Wirrwarr der Erfindung des eigenen Lebens allmählich begreifen, dass es nur die unendliche Liebe ist, die uns im Leben hält, und die geduldig wartet, bis wir beginnen zu sehen, was immer schon da war, dann leben wir wirklich.“ (T. Brocher, 1980).

Liebe Gemeinde, ich breche meine Gedanken zu den Menschen- und Fensterbildern von Hanno Edelmann hier ab. Nach dem Gottesdienst werden Sie die Bilder mit eigenen Augen betrachten und selbst mit ihnen in ein Gespräch eintreten können. Ich möchte Ihnen wünschen, dass Ihnen dabei in ähnlicher Weise auch eigene innere Bilder in den Sinn kommen und diese sich mit dem gütigen Blick und der umarmenden Geste von Bruder Mensch zu neuen eigenen Bildern verbinden.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

 
  Zum Text Anfang  

Zum Seitenanfang...