Zur Übersicht

Voriger Text - Nr. 4 - Nächster Text


 
 

Ich bin ein Gast auf Erden - Predigt von Projektpastorin Gundula Döring zu ihrer Einführung am 6.1.2012

Gundula Döring leitet seit Herbst 2011 als Pastorin das Projekt "kirche aufschlussreich" in der Region Alstertal

Ein junger Mann sitzt mit einer Tasse Tee vor seinem Iglu-Zelt. Mitten auf dem Timesquare in New York. Zwischen Hochhäusern, Leuchtreklamen und tosendem Verkehr. Da sitzt er vor seinem Zelt. Ich weiß nicht, wie lange er dort schon sitzt. Und welchen Grund es für die ungewöhnliche Wahl seines “Zeltplatzes” gibt. Aber ich denke mir: Vielleicht hat ja so jemand wie dieser Zeltbewohner ein Bewusstsein dafür, wie es ist „Gast auf Erden zu sein“

„Ich bin ein Gast auf Erden“ - das ist das Motto am Turm. In riesigen Buchstaben ist es sein der Adventszeit auf den Turm der Vicelinkirche geschrieben. Ein „Motto am Turm“ ist ja schon eine Tradition in Sasel. Es ist so etwas, wie ein kleiner kurzer Stich im Alltag. Ob ich beim Einkaufen auf dem Wochenmarkt bin oder nur die Straße entlang fahre, das Kind aus der Kita abhole oder beim Imbiss eine schnelle Mahlzeit hole: mittendrin werde ich erinnert: „Ich bin ein Gast auf Erden“ Und dann bin ich schon wieder vorbei. Weil ich ja einkaufe oder das Kind hole oder was auch immer. Aber vielleicht ist ja dieser kleine Stich der Erinnerung so etwas wie eine kleine Akupunkturnadel. Es piekst kurz, aber wenn ich zulasse, kann der Impuls auf das ganze System wirken.

„Ich bin ein Gast auf Erden“ – dieser Satz ist ja entnommen aus dem 119. Psalm. Wir haben ihn vorhin in Auszügen gesprochen. Es ist ein sehr langer Psalm. Er hat 176 Verse. Da spricht einer in kunstvoller Poesie (im hebräischen sind die Strophen nach dem Alphabet geordnet) von der Sehnsucht, sein Leben nach Gottes Weisung zu führen. „Weisung“ das müssen nicht unbedingt einzelne Gebote oder Vorschriften sein – sondern es geht um die Ausrichtung des ganzen Lebens. Wie kann eine/r sein Leben so führen, dass es im Einklang ist mit der großen Ordnung, die sich in den kleinen Dingen spiegelt. In immer wieder neuen Varianten – 176 mal - wird dieser Grundgedanke ausgedrückt. Da ist zunächst das ICH des Verfassers: „ich suche dich von ganzem Herzen – ich danke dir – ich will deine Gebote halten“ usw. Dieses ICH ist geradezu besessen von dem Wunsch, der Weisung Gottes zu folgen. Und dann ist ein DU angeredet, ohne das es gar nicht möglich wäre, diesem Weg zu folgen „Erweise mir deine Güte, damit ich neue Lebenskraft bekomme- du tröstest mein Herz- dein Wort erquickt mich“ usw. Fast jeder Vers lebt von dieser Ausrichtung. Da redet einer von sich und nimmt zugleich wieder Abstand von sich, indem er sich auf dieses DU richtet.
Und wenn es heißt „Ich bin ein Gast auf Erden“ dann zeigt das Wort „Gast“ ja schon, dass dieses ICH nicht allein ist. Wer sich als Gast bezeichnet, hat ja das Bewusstsein zu Gast zu sein, wo und bei wem auch immer. Als Gast weiß ich, ich befinde mich vor in einem Umfeld, dessen Regeln nicht ich gemacht habe. Und so ist es manchmal gar nicht so einfach „Gast“ zu sein. Manchmal ist es sogar ein echter Stressfaktor:

Eine Freundin, die ein Jahr in Israel lebte, erzählte, dass sie damals auf einer Nomadenhochzeit eingeladen war. Mehrere Tage ging das Fest und sie war zur festlichen Mahlzeit eingeladen. Und weil sie als fremder Gast so hochgeschätzt war in dieser Kultur, bekam sie als besondere Köstlichkeit das Auge eines Ziegenbocks serviert. Meine Freundin war Vegetarierin. Manchmal kann das Gast-Sein also eine echte Zumutung sein.

Meine Freundin befand sich in einem völlig anderen Regelsystem. Andere Länder. Andere Sitten.
Aber auch, wenn die Region Alstertal, der Hamburger Nordosten, die Familie, das Milieu, die Gemeinde – was auch immer uns noch relativ vertraut und homogen erscheint – vieles ist eben nicht so einfach gelöst, sondern irgendwie frag-würdig geworden:

Nach welchen Regeln will ich leben? Wie kann ich selbstbestimmt aber nicht selbstsüchtig leben? Welche Zumutungen lasse ich mir auferlegen und welche nicht? Wo muss ich Verantwortung übernehmen und wo nicht? Wo muss ich beherzt eingreifen? Und wo muss ich mich im Sein-Lassen üben? All diese Fragen gelten für das Private ebenso wie in der Politik. Und in unserer globalisierten Welt, in der kulturelle und religiöse Identitäten keine stabilen Größen mehr sind, immer schwieriger zu beantworten. Geländer der Orientierung scheinen verloren zu gehen. Was für den einen gilt, gilt für die andere noch lange nicht. Wo heute mein Platz ist, muss ich schon morgen anderen Platz machen.

Deshalb ist das alte biblische Bild vom „Gast auf Erden“ zugleich ein sehr modernes. Denn in ihm ist die Vorläufigkeit aller Beheimatung angelegt. Ein Gast ist jemand, der kommt und geht. Und vielleicht taugt das Bild von der festen Burg nicht mehr in diesen Tagen, wo die Lebensweise eher „von Ort zu Ort“ und „von Zeit zu Zeit“ bestimmt ist.

Dagegen noch einmal das Bild vom Anfang: ein Mann vor seinem Zelt auf dem Time square in New York. Vielleicht ist das Zelt das passendere Bild für das 21. Jahrhundert. Pflöcke einschlagen können und sie wieder entfernen. Jetzt hier sein, wissend, ich bin auch anders möglich. Eine Sehnsucht nach Aufbruch und Beheimatung zugleich.
Ein Gefühl von Fremdheit und Verwurzelung.
Auch die Bibel kennt diese Ambivalenz. Über Abraham wird im Brief an die Hebräer gesagt: „Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten…“

In der frühen Christenheit scheint das Hinweis für eine mögliche Existenzweise gewesen zu sein. In einem anderen frühchristlichen Brief, dem Brief an Diognet heißt es über die Christen: „Jede Fremde ist ihnen Heimat, und jede Heimat ist ihnen fremd….Sie leben in der Welt, aber sie haben dort nicht ihren Ursprung.“ Offenbar hat das Leben dieser ersten Christen eine gewisse Freiheit ausgestrahlt. Eine Freiheit, die sich aus diesem nicht zu fassenden Ursprung speist.
Heute ist Epiphanias. Das ist ein strahlender und festlicher Tag. Sternsinger als Könige verkleidet gehen durch die Straßen. Sie sind zu Gast an vielen . Epiphanias ist ein altes Fest und man nannte es in alter Zeit „Feier der glanzvollen Offenbarung der Wesenswürde Jesu“. Was ist das : diese „Wesenswürde“, die wir an Jesus festmachen, die wir aber alle haben? Ihr auf die Spur zu kommen, das ist eine Aufgabe nicht nur für das neue Jahr. Das ist eine Lebensaufgabe. Im Anfang des
Johannesevangeliums heißt es: „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.“ So kennen wir diesen Satz. Aber eigentlich heißt es wörtlich: „Das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns. Das Unvergängliche wird das Vorübergehende. Ich wünsche uns, dass wir uns den Blick dafür bewahren. Das können wir auch dann, wenn wir in festen Häusern wohnen.

Amen.

 
  Zum Text Anfang  

Zum Seitenanfang...