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"Einer trage des anderen Last" - Demenz-Gottesdienst mit dreigeteilter Predigt am Welt-Alzheimer-Tag, 23.9.2012, Lukaskirche Hamburg-Sasel

"Keiner sagt mir, wo ich hin gehöre"... Grafik (2012) zur Alzheimer-Krankheit: Anna Knodel, Hamburg-Sasel

Dreiteilige Predigt im Gottesdienst zum Welt-Alzheimer-Tag, Sonntag, 23. September 2012, Lukaskirche Hamburg-Sasel


Motto des Gottesdienstes:

„EINER TRAGE DES ANDEREN LAST“

Im Eingangsbereich der Kirche lagen ca. 80 Pflastersteine. Kleine kleinen, sondern sehr schwere Steine. Wir haben eingeladen, so einen schweren Stein mit in die Kirchenbank zu nehmen. Es würde nachher erklärt werden, was es damit auf sich hat. Gleich zu Beginn des Gottesdienstes nach der Begrüßung, wurden die Gottesdienstbesucher zu ihren Empfindungen im Blick auf den Stein befragt. Es waren ca. fünf Minuten sehr konzentrierter, sehr interessanter Rückmeldungen. Die Schwere des Steines war Symbol für die Schwere, für die nicht einfach „weg zu legende“ Last der Demenz für alle Betroffenen.


Predigt

TEIL 1 (von Ilse Hans, Diakonin / Sozialpädagogin, Leiterin der Saseler Seniorenarbeit)


„Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ -

dieser Bibelvers begleitet mich seit Tagen auf meinen Waldspaziergängen.
Was bedeutet dieser Satz für mich –
als Tochter einer an Demenz erkrankten 90-jährigen Mutter?
Als Schwester von zwei Brüdern,
die wir uns um unsere Mutter kümmern?
Als Sozialpädagogin in der Gemeinde,
von der sich Angehörige und Betroffene Unterstützung erhoffen?

Mich tröstet dieser Satz!
„Einer trage des anderen Last“ – heißt für mich:
ich bin nicht allein.
Ich werde von anderen getragen.
Es gibt ein Miteinander beim Lasten tragen.

Jesus ist für mich dabei ein Mutmacher und Vorbild.
Er hilft mir dabei, die Besuche meiner Mutter, die in Hannover in einem Pflegeheim lebt,
zu verarbeiten.

Ein-bis zweimal im Monat fahre ich mit dem Zug nach Hannover.
Schon auf der Hinfahrt versuche ich,
mich auf den Besuch einzustellen.
Die gemeinsamen Stunden,
von denen ich vorab nie weiß, wie sie werden, sind kostbar.

Meine Mutter empfängt mich jedes Mal mit den Worten:
„Es geht mir so schlecht, und jeden Tag schlechter“.
Ich umarme sie und halte ihre Hand.
Nehme es an, wie sie es sagt.

Nach einer Weile frage ich sie,
ob wir ihre Musik hören wollen.
Vor drei Jahren hatte ich ihr Klavierspiel,
was ihr sehr viel bedeutet, aufgenommen.
Jetzt hilft uns das gemeinsame Hören ihrer Musik.

Meine Mutter sagt: „Das habe ich nicht gespielt, das ist nicht von mir“.
Aber sie kriegt rote Bäckchen,
spielt mit den Fingern auf der Bettdecke wie auf einem Klavier,
bewegt ihren Körper im Bett liegend hin und her.
Ihre Stimmung hellt sich auf,
die Musik weckt ihre Lebensgeister.

Durchs Fenster beobachten wir Vögel auf ihrem Balkon.
Wir drehen mit dem Rollstuhl eine Runde im Garten.
Und freuen uns über die Blumenpracht
und die wärmende Sonne.

Das sind Sternstunden,
die wir beide genießen.
In denen wir uns ganz nah sind.

* * *

Es kann auch anders kommen.
Meine Mutter liegt mit Schmerzen im Bett.
Ich fühle mich ohnmächtig.
Es tut mir weh, sie so zu sehen.

Nach dem Mittagessen erkennt sie mich nicht mehr als ihre Tochter.
Ich bin zur Schwägerin Renate geworden,
und bleibe das auch, bis zu meiner Abfahrt.
Wie gut, dass ich schon auf der Heimfahrt
mit einem meiner Brüder telefoniere.
Ich kann von den Erlebnissen erzählen,
und fühle mich getragen.
„Einer trage des anderen Last“.

* * *

Und ich arbeite in unserer Kirchengemeinde.
Ich bin dankbar für die Zusammenarbeit mit Martina Trautmann und Susanne Fink,
die die Angehörigengruppe leiten.
Ich bin dankbar für die KünstlerInnengruppe,
mit der wir gerade die Ausstellung „Mein Blick auf Demenz“ vorbereiten.
Wir bemühen uns, die Krankheit Demenz,
bzw. die Erkrankten und Angehörigen in unsere Mitte zu holen.
Langfristig gelingt es uns vielleicht,
ein soziales Netzwerk für Angehörige und Betroffene
in der Gemeinde und im Stadtteil zu schaffen
und den Bibelspruch spürbar und sichtbar werden zu lassen:
„Einer trage des anderen Last“.

LEISE ORGEL-MUSIK (EINE STROPHE VON EG 317 „LOBE DEN HERREN, DEN MÄCHTIGEN KÖNIG DER EHREN“)



TEIL 2 (von Susanne Fink-Knodel, Heilpraktikerin, Leiterein der Alstertaler Angehörigengruppe „Atempause“, für Angehörige demenzkranker Menschen)


„Einer trage des anderen Last“ -

Mit unserer Überschrift wecken wir möglicherweise die Hoffnung,
wir hätten ein Rezept,
wie wir einem anderen Menschen eine leidvolle Last abnehmen
oder sie wenigstens mittragen könnten.
Das können wir tun,
wenn es um konkrete Hilfe bei konkreten Dingen geht.
In der Pflege, im Haushalt oder Garten und so weiter.
Aber schmerzhafte Gefühle können wir niemandem abnehmen.
Wenn wir Angst, Sorge oder Ohnmacht fühlen,
traurig oder wütend sind,
können wir keinen Stein aufheben und in unseren Rucksack stecken,
damit es für den anderen leichter werden möge.
So sehr wir das auch wünschen.
Wenn ich an meine Mutter denke,
die 91 Jahre alt ist und an einer Demenz erkrankt ist,
an meine Geschwister und mich, die sich um sie kümmern und mitpflegen,
so tragen weder meine Mutter
noch wir einen sichtbaren Stein in der Hand.
Was können wir also tun,
wenn wir Angst vor der Zukunft haben,
traurig über den langen Abschied sind,
wütend auf die Ungerechtigkeit,
daß es einen geliebten Menschen getroffen hat,
besorgt über die eigenen Kräfte und die des Erkrankten
und ohnmächtig gegenüber den Symptomen sind?
Wenn medizinisch keine großen Erfolge zu erwarten sind,
geht es beim Lastentragen besonders
um unsere zwischenmenschlichen Beziehungen.
In der Zeit vor oder nach der Diagnose,
erleben die Betroffenen,
wie vertraute Fertigkeiten schwer werden.
Dinge, die im Beruf oder im Alltag jahrelang Routine waren,
sind mühsam geworden.
Es passieren Fehler.
Der Betroffene ist erschüttert über sich selbst.
Angehörige, Freunde oder Kinder sind genervt mit ihm.
„Das habe ich Dir doch schon x-mal gesagt!“
„Wir waren doch verabredet!“
„Du wolltest das doch tun!“
Die Stimmung ist angespannt,
ein Vorwurf schwingt mit im Tonfall.
Der Betroffene hört und fühlt den Apell,
besser zu sein, als es ihm möglich ist
und unter Streß werden wir alle noch schusseliger.
Die gemeinsame Zeit wird angespannter
und verliert die Leichtigkeit und das gemeinsame Lachen wird seltener.
Von dieser Last können wir nichts wegnehmen -
aber wir können sie wahrnehmen, erkennen und versuchen zu verstehen.
Danach können wir all unseren Mut zusammen nehmen
und sie aushalten und dableiben.
Auch schmerzhafte Gefühle können wieder abnehmen
und kleine Lichtblicke erlauben an Lachen und Leichtigkeit.
Gemeinsam sollten wir auf die Suche gehen
nach den leichten Momenten zwischen den Pflastersteinen.

LEISE ORGEL-MUSIK (EINE STROPHE VON EG 317 „LOBE DEN HERREN, DEN MÄCHTIGEN KÖNIG DER EHREN“)


TEIL 3 (von Thomas Jeutner, Pastor in Sasel, Mitglied der gemeindlichen Steuerungsgruppe Seniorenarbeit)

Wir hören noch einmal auf den biblischen Text,
der unserem Motto zugrunde liegt.

Galater 5,25-6,2

Paulus schreibt: 25 Wenn wir durch Gottes Geist ein neues Leben haben, wollen wir auch aus diesem Geist unser Leben führen. 26 Wir wollen nicht mit unseren vermeintlichen Vorzügen voreinander groß tun, uns damit gegenseitig herausfordern oder einander beneiden.
6,1 Brüder und Schwestern, auch wenn jemand unter euch in eine Verfehlung fällt, müsst ihr zeigen, dass der Geist Gottes euch leitet. Bringt einen solchen Menschen mit Nachsicht wieder auf den rechten Weg. Passt auf, dass ihr dabei nicht selbst zu Fall kommt.
2 Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.


(Stein dabei haben, noch einmal zeigen).

EINER TRAGE DES ANDEREN LAST.

Liebe Schwestern und Brüder,
wie geht es uns jetzt, nach dem Hören der Erfahrungen von eben,
aus den ersten beiden Predigtteilen?
Führt das „Teilen der Last“
letztlich zu einem größeren Bewusstsein der Sternstunden,
die uns gut tun, und Kraft geben?
Kraft, um das Schwere ansehen und aushalten zu können?

Als Paulus diesen berühmten Satz hinein schrieb
in seinen Brief an die Gemeinden in der Provinz Galatien,
dachte er bei der „Last“ nicht zuerst
an ein Begleiten von Kranken und Pflegebedürftigen.
Er dachte an unser ganzes Leben.
Daran, dass wir alle Zuwendung brauchen.
Nicht nur kranke Menschen, sondern alle!

Ob wir Kinder sind, Jugendliche oder Erwachsene.
Egal ob wir gerade erfolgreich oder angeschlagen sind,
verliebte oder angespannte Zeiten durchleben:
Wir brauchen die Nähe und das Wahrnehmen,
das Mittragen durch andere,
egal ob wir noch gesund oder halbwegs bei Kräften,
oder erschöpft sind,
oder – ganz auf andere angewiesen.

* * *

Vor seinem Satz „Einer trage des anderen Last“
steht seine wichtige Bemerkung:
„Ein jeder sehe auch auf sich selbst“.

Ich halte das im Begleiten von Angehörigen für ein wichtiges Wort:
Ich kann nur Last mittragen,
wenn ich auch auf mich selbst achte:
Auf mein Bedürfnis nach Abstand, Abwechslung und eigenem Leben.
Auf mein Bedürfnis, jemandem - oder einer Gruppe -
meine Erfahrungen mitteilen zu können.
Das erfrischt meine Kräfte.
„Ein jeder sehe auch auf sich selbst“.

* * *

Und hinter Paulus` Satz „Einer trage des anderen Last“
steht noch die zweite Satzhälfte:
„So werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“.

Mit dem Gesetz Christi,
so verstehen es viele jüdische und christliche Ausleger,
ist die Thora des Messias gemeint.
Nicht eine Thora, eine Gesetzessammlung der Paragraphen.
Sondern eine Thora des Herzens,
das Gesetz der Liebe.

„Ihr werdet das Gesetz Christi erfüllen“ –
lese ich nicht als ermahnende Forderung.
Sondern als ermutigende Einladung:
Den Weg des Jesus von Nazareth zu gehen,
dessen Liebe kein Tauschhandel war.
Sein Einsatz für Menschen
beruhte nicht auf einem Lastenausgleich,
nicht auf einem Generationenvertrag.
Jesus handelte nicht nach dem Prinzip
„Eine Hand wäscht die andere“, oder „Wie du mir, so ich dir“.

Im Geist Jesu, meint Paulus,
können wir auch einseitig mittragen,
und geben, ohne Berechnung.

Wir können innerlich zustimmen,
dass in der zuwendenden Liebe – wie überhaupt in jeder Partnerbeziehung –
der eine manchmal mehr gibt,
und mehr liebt, als der andere.

Nicht als Pflicht.
Aber als freies Geschenk.
Aus Hingabe.

Was mit dem „Gesetz Christi“ gemeint ist,
das uns zum Lastentragen stark macht,
lesen wir auch bei Paulus, in seinem „Hohen Lied“ der Liebe:

„Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu.
Die Liebe hört niemals auf.

* * *

Ich weiß, wie weit entfernt von diesem hohen Anspruch
die Wirklichkeit sein kann,
im Alltag des Begleitens:
Bedrückend und schwer, wie der Stein.

Wir feiern aber diesen Gottesdienst,
und wir laden ein zum Gespräch und Austausch,
damit wir an Kraftquellen kommen.
Und an Orte gehen können,
wo ich den Stein ablegen kann.
Wo andere ihn sehen,
und ihn als Last mittragen.

Ich bin gewiss, dass zu unserem Mut, wenn wir einander öffnen,
auch Gottes Kraft hinzu kommt.
Weil uns allen gesagt ist, dass wir Getragene sind.
Wir sind seine Schutzbefohlenen,
mit allen, die uns anbefohlen sind.

So wollen wir es singen, und auf uns alle beziehen,
in unserem nächsten Lied,
dessen Melodie wir schon in den Predigtpausen hörten:

„In wie viel Not
hat nicht der gnädige Gott
über dir Flügel gebreitet“. Amen.


Jetzt singt die ganze Gemeinde das Lied „LOBE DEN HERREN, DEN MÄCHTIGEN KÖNIG DER EHREN“

 
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